Wir Menschen sind rhythmische Wesen. Ein strukturierter, rhythmisierter Alltag erleichtert uns das Leben ungemein. Unser Körper mit seinen vielen Rhythmen braucht sogar eine gewisse Unterstützung durch die Umgebung, um sich wohl zu fühlen und effizient zu arbeiten. Und doch ist es gut, den Alltag mit seinen Strukturen manchmal vorübergehend zu verlassen, und etwas ganz anderes zu tun - nämlich weniger.
In der Biografiearbeit kennen wir den Begriff der "Rushhour des Lebens". Es sind die Jahre um die 40, in denen alles kumuliert: Karriere, Kinder, Hausbau oder Wohnungskauf, Weiterbildungen, Familie - alles ist in Hochform, will bedient werden, ruft uns zu, jetzt gerade sei der wichtigste Moment. Und oft ist es auch so, dass in dieser Zeit viel Wichtiges geschieht. Vor allem Familienmütter und -väter kennen die Erschöpfung und das ewig schlechte Gewissen, das diese Lebensjahre begleiten kann. Doch auch später wird es wenig ruhiger. Wir leben in einer Welt der vielen Möglichkeiten, sind vielseitig interessiert und engagiert, kümmern uns um unseren Körper, Geist und unsere Umgebung, auch als ältere Menschen. Und das ist gut so.
Trotzdem kann es eine gute Idee sein, sich jedes Jahr einmal eine Auszeit zu organisieren. Eine Zeit, die man nur einem Thema, einer Sache widmet, und die man alleine mit sich verbringt. Es ist nicht jedermanns Sache, ganz allein in eine Berghütte zu gehen, und es ist auch nicht allen möglich. "Zeit mit sich selbst verbringen" kann auch bedeuten, ein Yogaretreat zu besuchen, eine Wellnesswoche, ein Meditationsseminar. Damit eine wohltuende Wirkung eintreten kann ist es aber wichtig, dass man nicht die eine Komponente des Alltags durch eine ähnliche ersetzt. Dass nun also nicht anstelle der Familie viele andere Menschen um den Essenstisch sitzen und miteinander reden. Oder dass man nicht anstelle der Büroarbeit mit anderen Aufgaben am Computer sitzt. Eine Auszeit ist dann wohltuend, wenn man weniger macht und mehr sein kann. Wenn es wieder einmal still werden darf, man Langeweile spüren kann, sich der Schritt unmerklich verlangsamt. "Zeit mit sich selber verbringen" kann heissen, dass man sich selbst hören kann, vielleicht Tagebuch schreibt, spüren, was einem bewegt, fehlt, beglückt.
Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich als junge Mutter meine Kinder grosszog. "Auszeit" war ein grosser Traum - unendlich weit weg für mich. Und doch gab es diese Mittwochnachmittage, an denen die Kinder bei den Grosseltern waren und ich die Zeit fand, in einem Café zu sitzen, und nur die Zeitung zu lesen. Wie unendlich wertvoll waren diese Stunden für mich. Aus ihnen zog ich die Kraft für die kommenden Tage. Damals waren die Auszeiten kurz. Heute sind meine Kinder erwachsen, andere Aufgaben fordern meine Aufmerksamkeit. Und ich kann mir, rein theoretisch, längere Auszeiten gönnen. Und so rufe ich mir hiermit selber zu, das ernst zu nehmen, was uns Ärztinnen und Gesundheitsfachleute immer wieder empfehlen: organisiere dich, sodass du dir selbst eine gute Freundin sein kannst, und melde dich für einige Tage ab.
Die Welt wird es schaffen ohne dich. Wenigstens einige Tage.
Zieh dich zurück mit dir selbst. Schau, dass du gut für dich sorgen kannst. Mach etwas Schönes für dich und mit dir selbst. Erfreue dich an dir selbst, höre dir zu, nimm wahr, was Anteile von dir brauchen, die oft ungehört sind und übergangen werden.
Einige Tage weniger tun, weniger Abwechslung haben, weniger Input bekommen, runterfahren - das öffnet den Blick, schärft die Wahrnehmung, lässt uns geduldiger werden und aufmerksamer - macht uns vielleicht sogar zu einer ein wenig besseren Version unser selbst und schenkt uns Kraft für das, was kommt. Oft genug kommt dann auch die Freude am Alltag wieder, in den man dann gestärkt zurückkehren kann.
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