Stress, Abwehrkraft und Selbstmitgefühl
- karinfrey3
- 10. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Gesund sein, gesund werden, gesund bleiben - die meisten Menschen nennen diesen Wunsch an erster Stelle. Und wir tun auch viel dafür: Sport, Yoga, gesund essen, ärztliche Vorsorgeuntersuchungen und vieles mehr. Was oft vergessen geht, ist der wichtigste Player in diesem Spiel: das Bewusstsein. Hier erfährst du, was du unbedingt mitbedenken solltest, wenn es um deine Gesundheit geht.

Als Yogalehrerin komme ich "berufsbedingt" ständig in Kontakt mit Gesundheitsfragen: von einfachen Erkältungen, die den Teilnehmenden beim Yogapraktizieren das Atmen erschweren, über Bandscheibenvorfälle, die beim Üben berücksichtigt sein wollen bis zu schweren Erkrankungen, die die Menschen psychisch belasten - Gesundheit und ihre Beeinträchtigungen sind Thema wie überall, wo mit dem Körper gearbeitet wird.
Am Yogaweg fasziniert mich seit Anbeginn, dass hier der Mensch in seiner Ganzheit verstanden und angesprochen wird: Körper, Seele und Bewusstsein machen uns aus, und wann immer wir eine dieser Komponenten ausblenden, vernachlässigen, ignorieren, sind wir in unserer Kraft beschränkt. Mit dem achtstufigen Weg, den Patañjali im Yogasutra beschreibt, ist uns ein mächtiges und erst noch sehr praktisches Werkzeug an die Hand gegeben, mit dem wir ganzheitlich für uns sorgen können. Er beschreibt Zugänge über die Ethik, den Körper, die Atmung, unsere Wahrnehmung, unser Denken und Fühlen und ist letztendlich ein Bewusstseinsweg.
Wie wesentlich das Bewusstsein für Heilung ist, kann ich derzeit in einem höchst interessanten Buch nachlesen: Joachim Faulstich ist Autor und Regisseur wissenschaftlicher Fernsehdokumentationen, der für seine Arbeit viele Preise bekommen hat. Er beleuchtet in "Das heilende Bewusstsein - Wunder und Hoffnung an den Grenzen der Medizin" genau das: Die Fähigkeiten des Menschen zur Selbstheilung und die unterschätzte Macht von Geist und Seele. Dabei spielt er nicht die so genannte "Schulmedizin" aus gegen alternative Methoden, sondern er geht der Frage nach, welchen Stellenwert bei JEDEM Heilungsprozess die Selbstheilungsfähigkeit des Menschen hat, was sie unterstützt und was sie auch behindert. Es wird uns nicht erstaunen, dass Zuwendung und Berührung heilsam sind, Angst und Stress dagegen die Selbstheilungskräfte schwächen oder gar ausser Kraft setzen. Bei jeder Heilung spielen biologische Regelkreise eine Rolle, die von Stresshormonen gesteuert werden. Dem Umgang mit Stress kommt also eine Schlüsselrolle zu, wenn es um gesund sein, werden und bleiben geht.
"Stress entsteht, wenn etwas, das uns wichtig ist, auf dem Spiel steht." Diese Definition von Kelly McGonigal deutet auf dreierlei:
Stressempfinden ist subjektiv.
Wenn uns etwas stresst, können wir das als ein Zeichen unseres Alarmsystems verstehen, dass etwas bedroht wird, das uns wichtig ist.
Wir sind sodann aufgefordert, etwas zu unternehmen, um das zu schützen, was uns wichtig ist.
Wir Menschen sind, wie auch die Tiere, dafür ausgestattet, mit Gefahren umzugehen. Die körpereigenen Reaktionen sind Kampf, Flucht oder Erstarren. Sie treten automatisch in Kraft, sobald wir uns bedroht fühlen. Wenn die Bedrohung vorbei ist, kommt der Körper wieder zur Ruhe und erholt sich. Kurzzeitiger Stress ist also in unserem System vorgesehen und er schadet uns nicht. Was jedoch krank macht, ist lang anhaltender Stress.
Kaum etwas versetzt den Menschen so sehr in Stress wie das Gefühl der Unausweichlichkeit, des Ausgeliefertseins. Wenn Kampf, Flucht oder Erstarrung zu lange andauern und zu keiner wesentlichen Veränderung führen, könne leidvolle Folgen eintreten:
"Kämpfen" kann zu Selbstkritik und Aggression gegen uns selbst führen, wenn wir schlussendlich glauben, wir selbst seien schuld am Ungemach.
"Flüchten" kann zu Selbstisolation führen, die sich darin ausdrückt, dass wir uns mit unserem Leid allein fühlen. Wir ziehen uns von anderen Menschen oder vom als bedrohlich empfundenen Teil in uns zurück.
"Erstarren" kann sich zeigen in übermässiger Identifikation mit dem Leid, die es uns schwer macht, von unseren Gedanken und Überzeugungen im Bezug auf uns selbst, Andere und die Welt Abstand zu nehmen. Wir verfallen dann in Grübeleien und kreisende Gedanken.
(gefunden in "Mitgefühl üben - Das grosse Praxisbuch" von C. Stocker et al., Springer Verlag 2015)
Was also ist zu tun?
Alles, was uns erfahren lässt, dass wir handlungsfähig sind, dass wir einen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten können, hilft. Diese Erfahrung kann die Fähigkeit des Immunsystems erhöhen, auf Krankheitserreger zu reagieren.
Die Forschung zeigt, dass verschiedene Techniken der Entspannung und aktive Visualisierungen das Immunsystem unterstützen, weil diese Übungen offenbar Einfluss nehmen auf die Hormonproduktion und den Körper wieder ins Gleichgewicht bringen.
Yoga, Meditation, Pranayama gehören dazu.
Ebenso kann es helfen, das eigene Leben, die Werte und Ziele zu betrachten und Kurskorrekturen vorzunehmen. Biografiearbeit ist hier das Mittel der Wahl.
Allgemein gesagt:
Die "Medizin" bei Selbstkritik ist Selbstfreundlichkeit: unsere Fähigkeit, mit freundlichen Augen auf uns selbst zu schauen.
Die "Medizin" bei Selbstisolation ist Verbundenheit: die Erinnerung, dass wir nicht die einzigen sind, die Schmerz und Kummer erfahren, sondern dass es allen Menschen so geht.
Die "Medizin" gegen Überidentifikation und Grübeln ist Achtsamkeit: offene, nicht urteilende Aufmerksamkeit für den emotionalen Schmerz und unsere Reaktionen darauf. Das hilft uns dabei, uns weniger mit unserem Erleben oder unserer Sicht auf die Dinge zu identifizieren, und "gefrorene" Bewertungen und Überzeugungen können sich wieder verflüssigen.
(nach: Kristin Neff: Self-Compassion. Gefunden in "Mitgefühl üben - Das grosse Praxisbuch" von C. Stocker et al., Springer Verlag 2015)
Selbstmitgefühl, Verbundenheit, Achtsamkeit - alle sind sie Qualitäten des Bewusstseins. Wenn es uns gelingt, das zu tun, was uns selbst entspricht, im Einklang mit uns selbst zu handeln, mit unseren individuellen Wünschen und Hoffnungen, sind wir unserer Seele zugewandt. Wir fühlen uns handlungsfähig und übernehmen Selbstverantwortung. Und damit unterstützen wir unseren Körper mit seiner unvorstellbaren Selbstheilungsfähig-keit dabei, seinen Job gut machen zu können.
