Alles Trauma oder was?
- karinfrey3
- 22. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Der Begriff "Trauma" wird inflationär gebraucht. Nicht jedes schlimme Ereignis ist traumatisch. Nicht jede psychische Verstimmung braucht die Psychologin. Wir können ganz viel selber für unsere psychische Gesundheit machen. Hier wirst du erinnert daran, wie du gut für dich selbst sorgen kannst.

Meine beiden vergangenen Wochen waren ausserordentlich inspirierend. Ich arbeitete mit zwei Gruppen Lehrerinnen und Lehrer, die sich im Rahmen ihrer Weiterbildung mit Yoga und Klassen- und Selbstführung, oder mit Biografiearbeit, Yoga und Kreativität auseinandersetzten. Beide Kurswochen waren nur beglückend, bereichernd, befügelnd - sowohl für die Teilnehmenden, als auch für mich als Leiterin.
Gerade im zweiten Kurs wurde einmal mehr sichtbar, dass es in jedem Leben schwierige, herausfordende Ereignisse, Momente, Phasen gibt - ja, dass Krisen sogar entwicklungsbeschleunigende Funktionen übernehmen, sofern man sich ihnen stellt.
"Neue Anfänge sind oft verkleidet als schmerzliche Abschiede"
lesen wir bereits bei Laotse. Und Luise Rinser erinnert uns:
"Krisen sind Angebote des Lebens, sich zu wandeln. Man muss nicht immer wissen, was neu werden soll. Man muss nur bereit und zuversichtlich sein."
Für viele Menschen, die sich erstmals in einer Gruppe mit ihrer eigenen Biografie und den Lebenswegen anderer auseinandersetzen ist die Erkenntnis unerwartet, dass in jeder Lebensgeschichte diese harten und schmerzvollen Kapitel zu finden sind.
Sobald man sich dessen bewusst wird, wird auch deutlich, dass wir mit unserer Sprache, mit der wir uns ja unsere eigene Geschichte erzählen und sie auch anderen mitteilen, dass wir mit dieser Sprache differenziert umzugehen haben, um alledem gerecht zu werden.
"Was ist eigentlich normal?" ist oft die Frage, die am Anfang eines derartigen Erkenntnisprozesses steht. Ist es "normal", in jungen Jahren geliebte Bezugspersonen zu verlieren? Sind schwere Krankheiten "normal"? Ist es "normal", in der Mitte des Lebens seinen Lebenspartner noch immer nicht gefunden zu haben?
Und: ist alles, was nicht normal ist, gleich pathologisch? Muss ich mir Sorgen machen? Brauche ich professionelle Hilfe?
Seit einigen Jahren sind der Begriff "Trauma" und das verwandte Adjektiv "traumatisch" im öffentlichen Diskurs angekommen. Sie werden verwendet im Zusammenhang mit schlimmen Erfahrungen - und oft genug werden sie auch salopp verwendet, was den Umgang damit erschwert. Ich beobachte, dass nicht nur dieses Wort aus dem medizinischen Kontext inflationär verwendet wird. Bereits Gespräche unter jungen Erwachsenen lassen aufhorchen, weil sie gespickt sind mit Fachbegriffen aus dem Feld der Psychiatrie, der Psychologie und der Therapien, und man fragt sich, ob wir alle irgendwie krank geworden sind. Schlechte Schulnoten, enttäuschtes Liebeswerben, Bewegungsdrang, schlechte Laune, ein Beinbruch, ein Konflikt am Arbeitsplatz - sie alle erhalten einen pathologischen Anstrich, wenn sie in den ohnehin aufgeregten öffentlichen Diskussionen und Selbstoffenbarungen einen wirksamen verbalen Anstrich bekommen, der zeigen soll, dass man "drauskommt". Mit diesem "Bluff" trägt man aber dazu bei, vielleicht, ohne dies zu wollen, dass
das Leiden der tatsächlich von der Krankheit Betroffenen marginalisiert oder nicht ernst genommen wird;
man sich selbst schwach und hilflos macht, weil man so (unbewusst) die Heilung vom Leiden von einer Fachperson erwartet.
Damit ist auch klar gesagt: ein Leiden kann hinter all den oben genannten Zuständen stecken. Das sei hier unbestritten. Nur braucht nicht jedes Leiden den Arzt, die Therapeutin.
Bleiben wir beim Begriff "Trauma". Ich halte mich bei der Definition des Begriffs an die Fachfrau Verena König. Sie definiert "Trauma" so:
"Ein traumatisches Erlebnis zeichnet sich dadurch aus, dass es die Bewältigungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Betroffenen übersteigt. Es hat eine solche Wucht und Intensität, dass der Betroffene davon überwältigt wird und Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Lebensbedrohung erfährt." Ein Trauma hinterlässt Spuren im Nervensystem, die es erschweren, das lebensbedrohliche Ereignis zu integrieren, als Teil der eigenen Geschichte zu erleben und es auch dort zu lassen, wo es hingehört - in die eigene Vergangenheit. Als traumatisch erfahrene Ereignisse funken immer wieder destruktiv in die Gegenwart und verhindern so oft ein erfülltes Leben im Hier und Jetzt.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass längst nicht jedes erfahrene Unglück ein Trauma, und längst nicht jedes erlebte Leiden pathologisch sein muss. Unglück und Leiden gehören zum Leben - ebenso wie Glück und Genuss. Man kann mit einer unglücklichen Kindheit, mit ungerechten Lehrpersonen, mit einer üblen Chefin klarkommen. Allerdings gilt es, sich dem daraus entstehenden oder entstandenen Leiden achtsam zuzuwenden. Wie das geht?
Realisiere, dass du darunter leidest. Realisiere, dass es nicht dein Gegenüber ist oder die ausgefallene Beförderung oder das zu kleine Auto, das dich unglücklich macht, sondern dass es etwas IN dir ist. Vielleicht kannst du es noch nicht verorten oder benennen, aber nimm es wahr.
Akzeptiere, dass du darunter leidest. Drücke das Gefühl nicht weg, suche nicht weiter im Aussen nach der Lösung, sei nicht hart mit dir und befehle dir nicht, "doch nicht so empfindlich zu sein", sondern lass das Gefühl des Leidens zu. Das ist ohne Frage nicht angenehm, aber unerlässlich.
Und nun: höre deinem Leiden zu. Erforsche es. Wo im Körper macht es sich bemerkbar? Wann taucht es auf? Wie verhält es sich? Ist es über lange Zeit konstant, oder bewegt es sich in Wellen? Was möchte es dir sagen? Spürst du Wünsche, Bedürfnisse? Nimm dir Zeit und lausche.
Dann kommt die Frage: Was brauche ich jetzt? Wie kann ich meinem leidenden Anteil etwas Gutes tun? Wahrscheinlich gibt es kurz-, mittel- und langfristige Massnahmen, die dir einfallen.
(Wenn dich dieses Thema interessiert, findest du mehr dazu z.B. bei Tara Brach (Dein furchtloses Herz"))
Oft genug sind es ganz alltägliche Dinge, die Erleichterung bringen. Wenn ich jetzt mit der Aufzählung beginne, wirst du gleich wissen, wie es weiter geht.
Bewegung in der freien Natur
Gesundes, vollwertiges Essen
Genug zu trinken
Treffen und Gespräche mit Freunden
Sich in etwas vertiefen, das einem interessiert und Freude bereitet
ein heisses Bad
...
Manchmal kann es auch etwas ungewöhnlicher sein: das kleine, traurige innere Kind, das immer noch da ist, symbolisch in den Arm nehmen und es trösten. Immerhin ist man jetzt erwachsen und kann sich selbst liebevoll und mit viel Mitgefühl betrachten - und etwas geben, was jetzt gut tut.
Überhaupt sind Selbstmitgefühl und Geduld mit sich selbst wichtigste Zutaten, um sich selbst zu helfen. Ganz oft kommt man, Schritt für Schritt, aus dem Gefühl des Leidens heraus, wenn man sich selbst gut behandelt.
Und manchmal kommt man damit nur begrenzt weiter. Dann ist der Schritt zur professionellen Hilfe angezeigt.
Keinesfalls will ich hier behaupten, alles Leiden sei mit gutem Essen und Laufen an der frischen Luft auflösbar. Keinesfalls will ich den Wert und die Notwendigkeit des Beizugs therapeutischer Unterstützung kleinreden, wenn man dem eigenen Leiden nicht selbst beikommt. Es ist zentral, dass Traumata und Traumafolgestörungen von eigens spezialisierten Fachpersonen behandelt werden. Es ist not-wendig, dass Depressionen in ärztliche Hände kommen. Und auch Mobbing und Burnout gehören erkannt und professionell begleitet.
Aber eben: davor gibt es viel, das wir selbst tun können. Wir alle haben eine innere Ärztin einen inneren Therapeuten bei uns, die mit viel Erfahrung und Weisheit ausgestattet sind. Hören wir ihnen zu. Und vor allem: setzen wir im Alltag um, was sie uns ins Ohr flüstern. Tatsächlich und beständig.
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