Es gibt einige Fallen, in die Yogalehrerinnen und -lehrer nicht tappen sollten. Beispielsweise diejenige, Yogalektionen zu bauen, die nur Asana beinhalten, welche die Lehrerin, der Lehrer selber gerne macht und gut ausführen kann. Zum einen kann so kein ausgewogener Yogaunterricht entstehen. Zum anderen werden die Yogaschülerinnen um die Haltungen gebracht, die ihnen vielleicht besonders gut liegen, die sie lieben, die ihnen gut tun würden.
Dabei ist es nachvollziehbar, dass man sich nicht ohne Not in Situationen begibt, die einen an die eigenen Grenzen bringen. Und es gibt Asana, die auch Yogalehrende herausfordern, sei es auf körperlicher, sei es auf mentaler Ebene. Gerne vermeidet man solche Grenzsituationen, denn jenseits der Grenze erwartet einen früher oder später die Überforderung. Und doch sind Grenzerfahrungen sehr wichtig für die Entwicklung, weil man oft gerade dabei eigene Muster erkennen kann.
In der Yogaphilosophie werden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster SAMSKARA genannt. Das sind eingefahrene Pfade, starre Haltungen, automatische Reaktionen. Sie entstehen im Lauf eines Lebens - manche sagen sogar, man bringe sie ins jetzige Erdenleben mit -, und setzen sich zusammen aus Eindrücken, Prägungen, Erfahrungen, Glaubenssätzen, welche die Folie bilden, vor deren Hintergrund viele unserer alltäglichen Reaktionen quasi "automatisch" ablaufen. Etliche solcher Automatismen erleichtern unser Leben, ja sind unverzichtbar in dieser komplexen Welt. Einige davon sind aber auch hinderlich. Wir erkennen sie daran, dass wir vielleicht feststellen, einmal mehr eine Reaktion gezeigt zu haben, die so eigentlich gar nicht beabsichtigt war. Wir merken, dass wir nicht aus voller Präsenz und Freiheit gehandelt haben.
Ziel des Yoga ist geistige Freiheit, was auch bedeutet, bewusst und klar im Hier und Jetzt zu stehen und möglichst unbefangen zu handeln. SAMSKARA stehen uns dabei im Weg. Yoga kann uns helfen, solche Muster zu erkennen und aufzulösen. Auch in diesem Fall üben wir auf der Matte für das Leben, denn es ist viel einfacher, Muster im Umgang mit körperlichen Grenzen wahrzunehmen, als psychische Muster. Mit ein Grund dafür ist, dass viele Wahnehmungsmuster mit körperlichen Empfindungen erbunden sind. Wie also reagiere ich, wenn ich spüre, dass mein Körper meinen Absichten Grenzen setzt? Zwinge ich ihm meinen Willen auf? Übergehe ich den Schmerz? Oder fange ich schon gar nicht an mit Üben, weil ich sowieso keine Aussicht auf Erfolg sehe? Vermeide ich ungeliebte Yogaübungen, um meine Grenzen nicht spüren zu müssen?
Im Yogaunterricht lernen wir innezuhalten, hinzuschauen, ohne zu werten wahrzunehmen. Wir nehmen dabei nicht nur unseren Körper wahr, sondern vielleicht auch die VRITTIS, also die Wellen unserer Gedanken und Gefühle, wie sie die Yogaschriften so schön beschreiben. Zur Freiheit, die der Yoga anstrebt, gehört auch geistige Flexibilität. Wer immer den gleichen Weg nimmt, wird immer ähnliche Erfahrungen machen. Man wird sich darin bestärkt fühlen, dass das, was man sieht, die Wahrheit ist. Ansichten verfestigen sich, werden eben zu Mustern, die einen "automatisch" steuern. Yoga hilft uns dabei, uns selbst zu beobachten, neue Erfahrungen zu machen, neue Wege anzulegen und alte, ausgetretene Pfade zu überlagern.
In der Ruhe länger gehaltener Asana und in der Meditation kann der Geist beruhigt und gestärkt werden. Er wird offener für Erkenntnis. Wenn wir eigene SAMSKARA entdecken und erkennen, können wir entscheiden, ob wir sie behalten oder loslassen wollen. Und damit kommen wir geistiger Freiheit ein bisschen näher.
Comments