Freudevolles Älterwerden
- karinfrey3
- vor 2 Tagen
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"Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, mit 66 Jahren, da hat man Spass daran!"- du kennst den Song. Ist schon etwas verstaubt, aber der Slogan hat sich gehalten. Mindestens zum Teil hatte Udo Jürgens recht, finde ich: mit 66 Jahren kann man wirklich Spass am Leben haben. Dass es dann erst anfange - nun, das ist weder richtig noch wäre es erstrebenswert. Aber über freudevolles Älterwerden nachzudenken, das lohnt sich alleweil.

In diesen Tagen bereite ich einen Ferienweiterbildungskurs vor und tauche ein in die Themen der Lebensgestaltung, der Biografiearbeit. Mir fallen viele Geschichten ein, die ich von Klientinnen im Coaching gehört habe, der bunte Reigen an Kindheiten hier und anderswo, die Schilderungen von Höhenflügen und Krisen, das gemeinsame Staunen ob der Vielfältigkeit und der verborgenen Intelligenz, die in Lebensrealitäten steckt. Und ich erkenne einmal mehr, wie wertvoll die vierte Lebensphase ist oder zumindest sein kann, wenn man sie bewusst gestaltet.
"Alt werden ist nichts für Feiglinge!", hat meine Mutter im hohen Alter jeweils gesagt, und ich stimme ihr bei. Dabei muss ich mir aber immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass auch das so genannte "Alter" kein monolithischer Block ist, sondern sich zumindest aufteilen lässt in eine Phase des "jungen" Alters - so bezeichnet man in der Altersforschung die Zeit zwischen 60 und 80 Jahren-, und die Phase des "hohen Alters", also die Lebenszeit nach 80. Und wenn ich an meine Mutter denke, ist sie in meiner Wahrnehmung sogar deutlich nach 80 - eher gegen 90 "wirklich alt geworden", wie man sagt. Ja, altern geschieht individuell, wie jede Lebensphase individuell erscheint. Das macht das Leben auch so reich, geheimnisvoll und wunderbar. Die Vertiefung in die biografischen Gesetzmässigkeiten führt mich aber einmal mehr zur Altersforschung, und da erkenne ich, dass Altern auch Interpretationssache ist.
Wie sich das Älterwerden gestaltet ist zum einen abhängig vom Körper, von dessen Gesundheit und Stärke. Dann spielt die seelische Spannkraft eine grosse Rolle, also die Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen. Als dritten Spieler haben wir den Geist, das Denken. Auch hier ist die Gesundheit ein mächtiger Faktor - alle Fragen rund um Demenz lassen mich ziemlich ratlos zurück. Aber das Denken, die Wahrnehmung und Interpretation dessen, was man erlebt und erfährt ist vielleicht einer der Haupteinfluss-faktoren auf das, was man ein erfülltes Alter nennt.
Ich erfahre einmal mehr, dass alle drei, also Körper, Seele und Geist, eine Rolle spielen beim Altern - wie vorher ja auch. Die Altersforschung zeigt mir aber auch, dass gerade im Alter die schwindenden Kräfte nicht mehr so viele Unachtsamkeiten auszugleichen vermögen, wie dies in jüngeren Jahren der Fall war. Zugleich lerne ich, dass viele bedeutende Menschen erst deutlich nach dem 65. Lebensjahr zu wirklichen Höchstleistungen gefunden haben, und ich erlebe an mir selbst, wie mein Denken freier und kreativer, mein Handeln mutiger geworden sind, seit ich nicht mehr im regulären Erwerbsleben stecke. Es sind offensichtlich Lebenskräfte frei geworden. Die anthroposophische Medizin beschreibt sehr schön, wie durch den Rückzug der Kräfte aus dem Körper diese Lebenskräfte für die geistige Entwicklung frei werden, und wie hier noch einmal wahre Höhenflüge möglich werden, auch jenseits des 70. Geburtstags.
Mit dem zunehmenden Hinwenden der Aufmerksamkeit auf das, was im Inneren geschieht, rücken noch einmal die zentralen Fragen des Menschseins ins Zentrum: Wer bin Ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Zum Glück müssen diese Fragen nicht beantwortet werden. Mit ihnen zu leben macht bereits einen Unterschied.
Ja, und dann geht es darum, dem Alter eine positive Bedeutung geben zu können. Nicht nur traurig zu sein, weil bestimmte Funktionen deutlich schwächer werden, sondern freudig zu erkennen, dass dafür andere Qualitäten an Gewicht und Stärke zulegen. Nicht nur wehmütig dem Vergangenen nachtrauern, sondern sich eine Zukunft zuzugestehen. Ja, das ist wohl der wirkmächtigste Perspektivenwechsel: im Alter an die eigene Zukunft denken. Welche Themen liegen mir am Herzen? Was will ich noch erreichen? Wen oder was will ich unterstützen? Je älter man ist, desto weniger hat man zu verlieren. Rücksicht auf Familie und Karriere - muss man nicht mehr nehmen. Rollenbilder erfüllen - nicht mehr nötig. Jetzt ist man frei. Das kann im ersten Moment ganz schön überfordernd sein. Es lohnt sich aber, sich diesen Zukunftsfragen zuzuwenden. Denn hier liegt das Glück im Alter verborgen.
Vielleich fragst du dich jetzt, ob der Tod bei all diesen Überlegungen denn gar keine Rolle spiele. Immerhin rückt er mit dem Altwerden in greifbare Nähe. Ich habe einen sehr schönen Vergleich gefunden. Im höheren Alter plant man vielleicht nicht mehr, einen umfangreichen Roman zu schreiben. Aber man legt sich eine Loseblattsammlung an, also eine Sammlung von Texten, die man laufend ergänzt.
Idealerweise baut sich mit der Vorstellung des eigenen Todes zunehmend eine Bekanntschaft und Vertrautheit auf, die ihm seinen Schrecken nimmt und einen frohgemut weiterschreiten lässt.
Bevor es aber so weit ist, gilt es, für Körper, Seele und Geist so zu sorgen, dass es ihnen möglichst lange gut geht.
Der schwächer werdenden Muskelkraft regelmässige Bewegung und Dehnung entgegensetzen. Yoga praktizieren, wandern, schwimmen - du weisst schon. Mindestens dreimal wächentlich ausgedehnt, sagt man.
Den empfindlicher werdenden Körper mit angepasster Ernährung, mit lebensfreund-lichen Tagesrhythmen und achtsamer Bewegung unterstützen. Unser Körper liebt Rhythmus - schenk ihm regelmässige Schlafenszeiten, achte auf deine Esszeiten und sorge immer wieder für Ruhezeiten - gerade wenn du noch sehr aktiv und leistungsfähig bist.
Der Ermüdung der seelischen Spannkraft mit regelmässigen Zeiten der Stille und Regeneration begegnen. Installiere deine morgendliche Meditationsroutine oder finde zum Gebet, wenn dir dies näher liegt.
Dem Geist Nahrung geben und dabei sorgfältig darauf achten, dass du ihm "Brot, nicht Steine" fütterst. Was nährt dich geistig? Was tut dir gut? Welche Lektüre, Filme, Freunde, Ausstellungen lassen dich lächeln? Schenk dir mehr davon.
Vor allem aber frage dich, was du den Menschen um dich und der Welt geben möchtest. Gerade im jungen Alter ist man so reich an Fähigkeiten, Erfahrung, Kompetenzen, dass es schade wäre, das alles für sich zu behalten. Im Alter kann sich der Blick weiten über das Persönliche hinaus. Wie beglückend, wenn man sich für etwas engagieren kann, das einem am Herzen liegt. Das ist nicht nur im Alter so, aber dann ganz besonders.
Eifach weder grossartig dini Gedanke Karin!
Ganz herzleche Dank; immer weder inspirierend!