Eine liebe Freundin macht mich dieser Tage aufmerksam auf die Künstlerin Rajkamal Kahlon. Diese nimmt Fotos von Indigenen aus wissenschaftlichen Ethnologiebüchern des 19. Jahrhunderts und malt, collagiert und illustriert diese um. Sie gibt den Menschen auf diesen Fotos neue Kleider oder Demonstrationsschilder (und auch Waffen) in die Hand. Damit will sie ein Zeichen setzen, um die in der Kolonialzeit ausgebeuteten, ausgelöschten und marginalisierten Körper dieser Menschen zu rehabilitieren. Macht das Sinn? Kann man mit der Veränderung von Bildern die Realität beeinflussen?
Noch vor einem halben Jahr hätte ich über diese Idee gelächelt. Wie kann man so naiv sein, hätte ich gedacht, zu meinen, man könne die Realität "schönen", indem man die Bilder verändert! Geschehen ist geschehen. Bild und Realität sind ausserdem zwei ganz verschiedene Ebenen. Und das Bild bildet die Realität ab. Vor allem ein Bild aus dem 19. Jahrhundert, als es noch keine Bildbearbeitungsprogramme gab, mit denen man Fotos elektronisch verändern kann.
Dabei weiss ich durchaus, dass auch die Bildauswahl eine Aussage bedeutet. Mit welchem Blick schaut der Fotograf auf das Objekt? Welchen Bildausschnitt wählt er? Wie inszeniert er die Portraitierten? (Die männliche Form ist hier durchaus bewusst gesetzt). Hier setzt die Künstlerin Rajkamal Kahlon an, wenn sie quasi im Nachhinein den nackt Portraitierten eine schützende Decke umlegt, oder die Wehrlosen mit Waffen ausrüstet. So weit, so gut. Doch wozu soll das gut sein?
Dann begann ich mit dem Intuitiven Malen. Und erlebte, wie man auf dem Papier Realitäten erschaffen kann. Nicht nur Taten verändern die Welt, sondern auch Worte. Und eben auch Bilder. Jedes Bild ist ein winziger Baustein der hochkomplexen Realität, dieses bunten Reigens an Entstehen und Vergehen, der vielfältigen Eindrücke, die meine Befindlichkeit beeinflussen und diejenige der Menschen, die dieses Bild betrachten. Jede Linie, die ich bewusst und liebevoll auf das Papier setze, ist ein bewusster, liebevoller Akt und gestaltet die Welt mit. Das erlebe ich so beim Malen - und dieses Erleben formt auch meine Art, Bilder zu betrachten.
Am gleichen Tag, an dem meine Freundin mich auf diese Künstlerin aufmerksam machte, schaute ich mir eine Dokumentation an zu den Übergriffen eines Rockmusikers auf junge Frauen. Das war ein Fehler, denn die dort gezeigten Bilder - der Konzerte!, nicht der Übergriffe! - brannten sich in meine Augen ein. Die Gewalttätigkeit, die Menschenverachtung, das Rohe die aus diesen Konzertausschnitten sprechen, verstörten mich nachhaltig. Auch diese Bilder sind Bestandteil des grossen Ganzen. Offenbar gibt es Tausende von Menschen, die diese Konzerte besuchen, sich diese Bilder anschauen. Und da frage ich mich, was das mit ihnen macht.
Ich erlebe die heilsame Wirkung authentisch gesetzter Zeichen auf das Papier. Ich erlebe die Wirkmacht gemalter Bilder. Ich erfahre die Veränderung meines Denkens und Fühlens durch das, was ich sehe. Und ich erleide den Eindruck, den einige wenige Filmsekunden in meinem Befinden hinterlassen.
Das lässt mich diesen Blogbeitrag verfassen. Seien wir aufmerksam auf die Bilder, denen wir unsere Augen, unseren Körper, unsere Seele aussetzen. Achten wir nicht nur auf das Essen lebendiger Nahrungsmittel, damit unser Körper gesund und feinfühlig bleibt, sondern auch auf wohltuende Farben, liebevoll gesetzte Zeichen, aus Menschenliebe ausgewählte Fotos und Filmbilder, mit denen wir unsere Seele konfrontieren. Nötigenfalls probieren wir aus, ob es funktioniert: das Übermalen, das Umgestalten. Oder wir gehen im Wald spazieren, schlendern durch's Blumenbeet, betrachten Bilder von Mark Rothko oder anderen grossen Künstlern, die die Welt mit ihren Kunstwerken bereichern und reinigen so unser inneres Auge und unsere Seele vom Belastenden und Verstörenden. Denn es gibt genug Schönes, Heilsames, Befriedigendes. Wir müssen es nur sehen und uns dafür entscheiden.
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