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Selbstliebe

"Möge ich lernen, mich mit Verständnis und Liebe zu betrachten." Dazu lädt uns der grosse vietnamesiche Mönch und Meditationsmeister Thich Nhat Hanh ein. Lange hatte ich meine liebe Mühe mit diesem Anspruch, brachte ich ihn doch nicht zusammen mit Selbstkritik und Lernbereitschaft, die ich als wichtige Entwicklungsmotoren schätze. Doch bedeutet Selbstliebe zwingend auch Selbstgerechtigkeit und Bequemlichkeit?

Egal ob im beruflichen Kontext oder bei der Reflexion persönlicher Beziehungen - Herausforderungen können erst gemeistert werden, wenn es gelingt, mit etwas Abstand auf das Gesamtbild zu blicken und die eigenen Anteile an problematischen Situationen anzuerkennen.Verändern kann man nämlich nur sein eigenes Verhalten. Der Zugriff auf das Verhalten des Gegenübers bleibt einem weitgehend verwehrt.


Da das eigene Verhalten in problematischen Situationen meistens nicht nur gossartig ist, erfordert dieser selbstkritische Blick Mut und Überwindung. Oft wird er deshalb vermieden, herausgezögert, verbrämt. Zu gross ist die Angst vor dem Schmerz der Erkenntnis, davor, abgelehnt zu werden, sei es von den anderen oder gar von sich selbst. Damit einher geht aber auch, dass man eine Chance verpasst, unliebsame Situationen zu verändern, zu verbessern, oder sich selbst zu entwickeln.


Akzeptieren, was ist - auch diese Aufforderung kennen wir aus der buddhistischen Psychologie, aus deren Perspektive Thich Nhat Hanh zu uns spricht. Damit ist nicht gemeint, das, was ist, gut zu finden und stehen zu lassen. Es geht darum hinzuschauen, hinzufühlen und das, was sich da zeigt, auszuhalten. Dabei zu bleiben. Es wahrzunehmen und erst dann zu entscheiden, ob und wie man darauf reagieren will.


Dabei nun hilft - das habe ich gelernt -, ein verständnis- und liebevoller Blick auf einen selbst. Mich selbst mit Verständnis und Liebe zu betrachten meint,anzuerkennen, dass ich es eigentlich - wie jeder Mensch - gut machen will. Dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten handle oder gehandelt habe, dass ich meine Beweggründe habe oder hatte, und dass diese Wertschätzung verdienen. Ein verständnis- und liebevoller Blick ermöglicht es aber auch anzuerkennen, dass etwas nicht gelungen ist, nicht gut läuft, anders herausgekommen ist, als man wollte, ohne sich selbst zu verurteilen. Er ermöglicht im Falle grosser Enttäuschung auch, sich selbst wie ein verletztes oder wütendes Kind anzunehmen, zu trösten und warmherzig alles weitere anzugehen.


Selbstliebe meint also alles andere als Selbstgerechtigkeit und Bequemlichkeit. Letztere führen nämlich nie dazu, dass sich etwas für mich Ungutes ändert. Sie sind vielleicht sogar die Folge der grossen Angst vor Selbstverurteilung und Selbsthass. So gesehen ist der verständnis- und liebevolle Blick auf einen selbst sogar eine Grundvoraussetzung für Lernen und Entwicklung.

 

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