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Pensioniert und frei

Ich sehe sie oft die Strasse hochgehen – Britta. Wahrscheinlich etwa 65 Jahre alt. Sie war Kindergärtnerin, und liess sich vor einigen Jahren vorzeitig pensionieren. Sie strahlt Zufriedenheit aus. Ob sie auch ihre Altersrente berechnen liess, bevor sie sich frühzeitig zur Ruhe setzte? Wie kommt sie dann zu ihrer Seelenruhe? Ich frage nach.



In meinem Bekanntenkreis ist es üblich, dass man sich einige Jahre vor der ordentlichen Pensionierung das zukünftige Altersguthaben, den voraussichtlichen wirtschaftlichen Bedarf und Verbrauch berechnen lässt. Je nachdem entscheidet man sich dafür, bis zum 65. Altersjahr oder darüber hinaus zu arbeiten, oder man gönnt sich den Luxus einer frühzeitigen Pensionierung. Einige Bekannte sind offensichtlich müde und arbeiten in einem Betrieb, der keine angepassten Stellenprofile für ältere Mitarbeitende kennt. Diese wünschen das Ende des Erwerbslebens sehnlichst herbei. Zumindest im Moment fühlen sie sich nicht mehr in der Lage, weiterhin produktiv tätig zu sein und steigen aus. Oder aber sie beugen sich zwangsläufig dem wirtschaftlichen Druck und versuchen, durchzuhalten. Andere fühlen sich noch fit und voller Energie, und suchen nach weiteren Aufgabenfeldern. Manche verdienen weiterhin Geld damit, andere engagieren sich im Bereich der Freiwilligenarbeit.

Für die allermeisten spielt aber das Geld plötzlich eine viel grössere Rolle als noch vor wenigen Jahren. Wird es reichen? Auf welche Annehmlichkeiten werden sie in Zukunft verzichten wollen? Wie muss man das Ersparte anlegen, um die nötige Rendite zu erzielen? Oder muss irgendwann mit Altersarmut gerechnet werden?


Zurück zu Britta. Ich weiss, dass Kindergartenlehrerinnen ihrer Generation noch nicht viel verdient haben. Wie ist da eine Frühpensionierung möglich?

Im Gespräch erfahre ich, dass sie nicht etwa viel Geld geerbt oder durch die Scheidung zugesprochen bekommen hat. Sie bewohnt auch kein abbezahltes Haus. Nein, sie lebt in einer kleinen günstigen Mietwohnung, hat kein Auto, hütet regelmässig ihren Enkel und leistet Freiwilligenarbeit bei einem Frauenverein. Für die Frühpensionierung entschied sie sich, weil sie erschöpft war. Die tägliche Arbeit mit den kleinen Kindern wurde ihr zuviel, vor allem, als sich ihr Enkel ankündigte, dem sie eine Grossmutter sein wollte, die auch präsent ist. Sie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben.

Sie brauche wenig Geld, sagt sie. Das sei schon immer so gewesen. Konsum habe ihr nie viel bedeutet. Auch heute noch könne sie gut durch die Stadt flanieren, ohne etwas kaufen zu müssen. Es gebe so viele schöne Ecken, wo man verweilen könne und sich fast wie in den Ferien fühle. Schön wohnen und kochen bedeute ihr wenig. Daher lebe sie gern in einer kleinen Wohnung mit einer winzigen Küchenzeile. Lieber sei sie unterwegs, meist zu Fuss.

Wenn sie sich einsam fühle, dann gehe sie raus. «Weisst du, wenn man rausgeht, geschieht immer etwas. Du begegnest jemandem, oder beobachtest etwas, und schon fühlst du dich irgendwie verbunden. Wenn du denkst, keiner kümmere sich um dich – kümmere du dich um jemanden! Und schon bist du im Kontakt, empfängst Dankbarkeit, hast Freude.»


Die Rhythmen der Biografie stellen in Aussicht, dass mit dem 10. Jahrsiebt, also irgendwann nach dem 63. Lebensjahr, eine Phase der Freiheit beginnt. Man ist nicht nur befreit von familiären Verpflichtungen und vom Erwerbsdruck, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung ist weitgehend abgeschlossen. Jetzt ist der Mensch frei, das Gute an anderen auszuüben oder auch etwas zu leben, das bisher brach lag.


Britta macht mir Eindruck. Sie weiss, was ihr wichtig ist, sie hat Schwerpunkte gesetzt und ihr Leben entsprechend eingerichtet. Sie ist frei und strahlt dies aus.

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