JEDERTAG - 27. September
- karinfrey3
- 30. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
"Eine Ode an den Alltag" sollte dieser Tag werden. Der Schriftsteller Maxim Gorki hat ihn vor vielen Jahren als Schreibprojekt "erfunden": ein ganz banaler Tag im Monat wird portraitiert, und bekommt so - gerade auch im Austausch mit anderen Menschen - einen besonderen Stellenwert. Mich fasziniert die Idee, und ich greife sie für diesen Blog auf.

Seit Jahrzehnten schreibe ich Tagebuch. Das Festhalten und Reflektieren, sie gehören zu meinem Leben wie das Atmen und das Essen. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich auch begonnen, jeden Tag etwas zu malen oder zu skizzieren - als Übung, und um der Kreativität in meinem Leben Raum zu schenken. Und ich schreibe diesen Blog, den unterdessen auch viele Menschen abonniert haben.
Mit all dem bin ich nicht allein. Meinen Weg begleiten verschiedene Impulsgeberinnen: ich bin über Newsletter verbunden mit meinen Lehrerinnen Ulrike Hirsch und Susanne Hofmeister, von denen ich so viel gelernt habe. Ich lasse mich inspirieren von Ramona Weyde, von der ich in die Welt der Art Journals eingeführt wurde. Dazu kommen immer mal wieder andere interessante Menschen, denen ich manchmal länger, manchmal kürzer folge, und die meine Perspektive und meinen Blick auf die Welt erweitern. Es sind von mir ausgewählte Menschen, die diesen Perspektivenwechsel in eine von mir bewusst gesetzte Richtung lenken. Damit entsteht ein Korrektiv zu den Nachrichten, die ungefragt in mein Leben ploppen, was mir sehr wichtig ist.
Auf diesem Weg bin ich auch auf ein altes Schreibprojekt gestossen, das ich hier aufgreife. Es ist das Projekt "Jedertag", den Maxim Gorki ins Leben gerufen hat, und das in den 1960er-Jahren von der Schriftstellerin Christa Wolf wieder aufgegriffen wurde.
Ein ganz banaler Tag wird portraitiert. Maxim Gorki wählte willkürlich den 27. September und erklärte ihn zum "Jedertag".
Ich blättere in meinem Tagebuch und in meinem Art Journal einige Seiten zurück, zum vergangenen Samstag. Einer dieser grauen Septembertage diesen Jahres, denen die Sehnsucht nach den Goldfarben und der Fülle des Herbstes gegenüber stehen. Tiefhängende Wolken, sehr kühl - meine Heizung läuft. Wir erwarten am Abend Besuch von Freunden. Ich habe beschlossen, es diesmal bei einem einfachen Nachtessen zu belassen. Oft stelle ich mich für Nachtessen mit Freunden und Freundinnen lange und konzentiert in die Küche, um aufwändige Menus zu kreieren. Zunehmend werde ich mir aber bewusst, dass ich eigentlich den Austausch mit diesen Menschen suche, und dass ich den Genuss vor allem auf dieser Ebene ermöglichen möchte. Ob ein einfaches Mahl dies unterstrützt? Oder ist es egal? Wir werden sehen.
Dem Grau des Tages setze ich eine Aquarellübung in meinem Art Journal entgegen (siehe oben). Seit Beginn des Monats arbeite ich mit einer reduzierten Farbpalette: auf meinem Maltisch stehen lediglich vier Farbtöpfchen: Ocker, Rot, Schwarz und Weiss. Diese Farbpalette geht auf den skandinavischen Maler Anders Zorn zurück, der gezeigt hat, wie vielfältig man mit den nur vier Farben gestalten kann. Ich verneige mich vor diesem grossen Künstler - gerade auch, nachdem ich mich jetzt einen Monat lang darauf beschränkt habe. Oft genug wird die Kreativität ja angeregt durch Beschränkung. Totzdem bin ich froh, wenn ich ab Oktober farblich wieder in die Vollen greifen kann.
Mit viel Vergnügen lese ich ein neu erschienenes Sachbuch der Historikerin Agnes Arnold-Forster "Nostalgie - Geschichte eines gefährlichen Gefühls". Eine Rezension kannst du hier lesen. Es ist nicht nur mit leichter Hand geschrieben, sondern auch hervorragend recherchiert und lenkt den Blick auf einen Aspekt unseres Lebens, der einfach so mitläuft. Bedeutsam und oft auch schwerwiegend, aber meist ohne bewusst wahrgenommen und bedacht zu werden. Besonders lustvoll wird die Lektüre da, wo meine eigene Lebensgeschichte gekreuzt wird. Erinnerungen an die 1970er-Jahre werden wach, und viele persönliche aber auch politische Ereignisse und Stimmungslagen werden wieder lebendig.
Daneben befinde ich mich gefühlsmässig in einer Welt des "Dazwischen". Der Yogaunterricht, der sonst einen wichtigen Schwerpunkt in meinem Leben bildet, pausiert. Der bisherige Yogaraum ist aufgegeben, der neue noch im Entstehen. Die Yoga-Schweigeretreats, dich ich im Lassallehaus geleitet habe, müssen wegen Schliessung dieses wunderbaren Ortes ausfallen. Bedeutsame Biografiearbeitsprozesse, die ich als Coach begleiten durfte, wurden erfolgreich beendet. Das ist immer ein beglückender Moment, der aber auch etwas melancholisch geprägt ist, wie vieles, das zu Ende geht.
Es sind insgesamt Tage des Übergangs: Bisheriges läuft aus oder hat bereits aufgehört, und das Neue ist noch nicht greifbar. Ein Gefühl der Leere entsteht, die wohl nötig ist, damit wirklich Neues entstehen kann - aber dieses (unangenehme) Gefühl will ausgehalten sein. Diese Gefühlslage findet ihren Ausdruck in meinem Tagebuch und im Art Journal.
Am Abend kommen dann die Gäste. Mit viel Liebe im Garten gesammelte Blumen erfreuen mich auch noch die nächsten Tage. Unterdessen scheint die Abendsonne durch die Wohnzimmerfenster. Endlich! Angeregte Gespräche - ob das einfache Nachtessen dazu beigetragen hat?
Vielleicht regt dich dieser Text an, auch in deinem Notizbuch zurückzublättern, dich zu erinnern. Und vielleicht magst du deinen JEDERTAG mit uns oder mit deinen Freunden, Freundinnen teilen? Du findest unter diesem Blogbeitrag wie immer ein Kommentarfeld. Der Jedertag wird dann wirklich interessant, wenn er geteilt wird. Ein ganz banaler Tag - und doch besonders.




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