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Höflichkeit, Respekt und Herzenstakt

Es gibt eine schöne Übung, die darin besteht, sich jeden Monat eine Tugend vorzunehmen, und sich damit zu beschäftigen - indem man darüber nachdenkt, sich darin übt, sein Verhalten dabei differenziert.

Dem September ist die Höflichkeit zugeordnet. Mich faszinieren die Überlegungen, die ich dazu gefunden habe.



Bis vor kurzen hielt ich Höflichkeit für eine ganz patente Sache: man verhält sich so, wie man es gelernt hat - anständig, zuvorkommend, nicht grob. Gemäss Definition soll Höflichkeit dem Gegenüber Respekt ausdrücken - und das finde ist erstrebenswert.

Bei genauerem Hinschauen stellen sich nun aber einige Fragen: Höflichkeit ist, im Gegensatz zur Freundlichkeit, stark durch gesellschaftliche Normen geprägt. Sie drückt sich oft durch eine gewisse Distanz aus, und höfliches Verhalten variiert von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur. Denken wir nur daran, dass es noch vor wenigen hundert Jahren als höflich und respektvoll galt, die eigenen Eltern mit "Sie" anzusprechen. Heute ist das für uns undenkbar.

Wie aber ist es mit Höflichkeitsbezeugungen von Menschen anderer Kulturen? Ich erinnere mich daran, dass ich - in meiner Rolle als Lehrerin - in einem Gespräch mit der Mutter eines Kindes zutiefst irritiert war, weil sie meinem Blick ständig auswich, mir nicht in die Augen schauen mochte. Erst der Hinweis einer Kollegin liess mich verstehen, was da geschehen war: diese Mutte stammte aus einem anderen Kulturkreis, wo es als respektlos gilt, einer Respektsperson in die Augen zu schauen. Sie war also in ihrem Verständnis sehr höflich. Mich hielt sie damit auf Distanz - so sehr, dass ich sie kaum verstand.

Meine Irritation blieb - aber ich konnte verstehen, dass Höflichkeit interpretiert werden muss und als soziale Norm, als Vereinbarung, die man getroffen hat, einige Menschen einschliesst, andere jedoch ausschliesst. Und ich musste einsehen, dass ich wahrscheinlich mit meinem Verhalten genauso Distanz schaffen kann, auch wenn ich es gar nicht beabsichtige. Oder sogar respektlos wirke, auch wenn mir das fern liegt.


In einer Gesellschaft, die einigermassen homogen ist, hat es die Höflichkeit nicht schwer. Man kann sie erlernen, wenn man Zugang dazu bekommt. (Damit ist aber auch angedeutet, dass sie durchaus auch dazu dienen kann, sich von anderen abzugrenzen, andere bewusst auszuschliessen - doch das sei hier nicht Thema). Was aber in einer Gesellschaft, die so bunt gemischt ist, wie die unsrige? Ist Höflichkeit da nicht sogar hinderlich? Weil ich es eigentlich mit "höflichem Verhalten" nur falsch machen kann?


Mir gefällt als Ausweg der Begriff des "Herzenstaktes". Er geht in diesem Zusammenhang zurück auf Rudolf Steiner. Bei Michaela Glöckler finde ich diese Überlegung: "Übt man dies (Herzenstakt. KF), so entsteht eine neue Form von Taktgefühl, das echter Herzlichkeit und Liebe zur Sache, zu Menschen und Dingen entspringt."


Das ist es doch, was wir brauchen: echte Begegnungen von Mensch zu Mensch. Höflichkeit im Alltag hilft, ist quasi "soziales Schmiermittel". Wir müssen uns aber bewusst sein, dass sie auch Distanz schafft. Manchmal wollen und brauchen wir dies. Manchmal aber auch nicht. Sich Gedanken zu machen über "Höflichkeit, Respekt und Herzenstakt" kann uns bei einem differenzierteren Verhalten unterstützen und vielleicht dazu beitragen, dort Nähe zuzulassen, wo wir sie brauchen, und wo sie nötig ist.



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